zum 99. Geburtstag meiner Mutter, 12.12.2020
Kapitel 14 (aus Rückkehr nach Utopia)
Ihwar und die Energie der Drachenschlange
Unaufhaltsam kämpfen zwei Wesen in Ihwars Brust; sie spürt ihre Bestimmung, hier am Felsen der Drachenschlange zu leben, immer stärker werden. „Ist es das, was ich erfüllen muss; ist es der Wille der Großen Mutter, dass ich ihr fortan hier im heiligen Bezirk zu dienen habe?“
Jedoch, da gibt es auch ihre Erinnerungen aus der Vergangenheit, die immer klarer, von Tag zu Tag lebendiger werden; und die Sehnsucht nach diesem anderen Leben, wieder bei ihrer Sippe zu sein, zerreißt ihr fast das Herz.
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Immer öfter hatte sie sich in den vergangenen Monden in eine Geborgenheit geflüchtet, sich vorgestellt, als Auserwählte hier an den Felsen der Drachenschlange zu gehören, hatte ihre Lieblingsplätze aufgesucht und bei den Naturwesen um Rat gebeten. Aber obwohl sie sich mit der Eule der Weisheit zu beraten gelernt hatte, musste sie auch ihrer Erkenntnis Gehör geben, dass sie in den Momenten, wo sie ihre Gedanken umherschweifen ließ, nach wie vor von ihren Zweifeln hin und her gerissen wurde und letztendlich noch immer nicht wusste, was sie tun sollte.
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„Es ist unsäglich schwer, meinen Geist zu zentrieren, meinen eigenen Willen einer höheren Macht unterzuordnen, gehorchen zu lernen, bedingungslos, und trotzdem frei zu sein, frei von allen Zwängen und Ängsten. Was ist, wenn ich es nicht schaffe?“
Vieles zerrt an ihr und dieses Gefühl, alleine und gleichzeitig tief verbunden mit allem zu sein, raubt ihr fast den Verstand.
Obwohl Ihwar weiß, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht alleine ist, sie jederzeit weise Ratgeber und liebevolle Menschen um sich hat, und auch ihre Visionen sich nach und nach wieder einstellen, ihr hilfreich sein könnten, ihre Zweifel sind so übermächtig, dass sie keine Ruhe findet. Unaufhaltsam martern sie sie weiter, selbst in ihren Träumen ringt sie um eine Entscheidung und ist voller Angst, dass es nie aufhört.
Doch eines Nachts sieht sie die Drachenschlange, wie sie, zwar in Stein gehauen, sich trotzdem in eigenwilliger Geschmeidigkeit windet. Sie umschlingt mit ihrem Körper ein Menschenpaar; links eine Frau, rechts einen Mann, die kniend Richtung Himmel schauen. Jedoch tut ihnen die Drachenschlange kein Leid an und sie scheinen sich freiwillig diesem Zustand hinzugeben, vereint sind sie, vereint in der Heiligen Hochzeit. Voller Verzückung durchströmt sie diese Energie, die alles Leben durchwirkt und beschützt, und Ihwar wähnt sie in absoluter Harmonie, in der sicheren Gewissheit, ihrer Bestimmung zu folgen, das Richtige zu tun.
„Seltsam“, denkt sie, als sie erwacht, „dieses Bild will mich trösten, schenkt mir Hoffnung, nur wo ist es? Ich bin doch schon an allen Felsen gewesen und habe kein solches von Menschenhand geschaffenes Werk gesehen, aber es muss hier am Felsen der Drachenschlange sein. Ich werde die Veleda fragen, sie hat bestimmt eine Erklärung“, grübelt Ihwar, und ist sich unerschütterlich sicher, dass sie die Abbildung wirklich gesehen hat.
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„Ich kann es dir nicht zeigen, kann dir nicht sagen, wo das Bild aus Stein ist, denn es wird erst in der Zukunft geschaffen werden. Das, was du schon heute siehst, ist die Manifestation unseres Wirkens, eine Botschaft, die wir der Nachwelt zu hinterlassen gedenken.“
„Erschrecke nicht über deine Fähigkeiten, sie sind ein Teil von dir“, tröstet die Veleda mit einer zärtlichen Berührung die verwirrte Ihwar. „Es ist gut so, es soll dir zeigen, dass du dich schon mehr überwunden hast, als du glaubst; du bist stark und gehst unserer Zukunft schon voraus.
Es werden Veränderungen auf die Menschheit zukommen, die es erforderlich machen, dass irgendwann dieses Bild, das in den unendlichen Kreisen von Jera von so vielen von uns erdacht wurde, Wirklichkeit werden kann.
Das alte Wissen von Mutter Erde wird einst nicht mehr gelebt, die alten Riten hier im Heiligen Bezirk nicht mehr zelebriert werden, schließlich ganz in Vergessenheit geraten.
Das Weibliche wird unterdrückt sein, das Männliche übermächtig werden, alles wird aus der Harmonie in der Natur des Menschen, diesem selbstverständlichen Miteinander von Mann und Frau, herausbrechen.
Dieser Ort hier, der riesige Felsen der Drachenschlange, dieses große Heiligtum auf Mutter Erde, wird für unendliche Zyklen von Jera, nicht nur unter der Last der Erde begraben sein, er wird nicht nur durch die Bäume, die darauf wachsen, versteckt sein, sondern er wird vergessen werden; und die Menschen werden sich in jenem Zeitalter des Mannes immer mehr verlieren, werden immer weniger verstehen können.“
Tränen laufen über Ihwars Wangen und auch die Veleda lässt mit fernem Blick ihre Trauer zu. Dann schüttelt sie energisch den Kopf und ermahnt sich mit eindringlichen Worten. „Es wird so geschehen, weil es der Wille des Allgöttlichen ist. Es wird so geschehen, damit irgendwann, wenn Jera im Zeichen des Kindes erscheint, die Menschen aus ihrer Vergangenheit gelernt haben werden. Es wird so geschehen, damit die vielen wieder anfangen können, sich zu erinnern. Sie werden aufwachen wie aus einem langen, tiefen Schlaf, werden erkennen, dass es genug ist mit diesem Ungleichgewicht. Sie werden in die linke Waagschale wieder das Weibliche hineinlegen und damit die Übermacht des Männlichen ausgleichen; daraus wird das Neue geboren werden, das Kind in uns allen wiederkehren.
Von diesem Ort aus, im rechten Zyklus von Jera, wird Stille Einkehr halten und der neue Frieden wird sich, wie die Kreiswellen eines Steines, der in den Teich geworfen wurde, über das ganze Erdenrund ausbreiten.
Unsere Träume werden Gestalt annehmen und die Zeichen, die wir heute nur sehen, noch nicht anfassen können, sie sind jetzt noch nicht feste Materie, werden von denen neu geschaffen werden, die sie einst ersannen; sie werden sie dann für all die anderen sichtbar machen.
Das Unwesen wird sein Treiben einstellen und das Erwachen des Neuen-Mensch-Seins wird geschehen; mit diesem Überblick und der Erkenntnis, schon alles in sich zu haben. Die selben Energieströme, die wir hier erfahren, werden in ferner Zukunft helfen, sich auf die verschiedenen Dimensionen einzulassen, in denen der Geist des Menschen unterwegs sein kann, dort wo die Erkenntnis schon Gewissheit ist.“
Und wieder kann Ihwar die Verbundenheit mit dieser großen Frau spüren, wieder braucht Ihwar ihre Fragen nur in Gedanken zu stellen, wieder kommen die Antworten ganz selbstverständlich.
„Noch drücken wir den Aspekt des Kampfes, dieses Ringen um unsere innere Harmonie, nicht in Kriegstaten aus“, fährt die Veleda fort, „noch leben die Menschen friedlich miteinander, achten gegenseitig das kostbare Geschenk des Lebens.
Noch ist es möglich, den inneren Konflikt ausgleichen zu lernen; hier und anderswo kann sich jeder der Einzuweihenden, ob Mann oder Frau, diesem friedlichen Ausgleich der ureigenen Gegensätze stellen. Noch ist die Hellsichtigkeit in vielen von uns ganz selbstverständlich. Noch können wir uns erinnern an all das Große und in Dankbarkeit die alte Verbundenheit mit Mutter Erde und Vater Himmel in uns feiern.
Jedoch auch für dich, meine liebe Ihwar, ist der Weg der Erkenntnis vorbereitet; kann ein Erblühen deines eigenen Seins nur erfolgen, indem du hier bist, um zu lernen, der Stimme deiner Seele, deiner Intuition zu gehorchen. Jeder Mann und jede Frau, die hierher kommen, werden in ihren menschlichen Körpern erwachen, um ihr Leben dieser Erkenntnis zu weihen; jedoch es ist allein der freie Wille des Menschen, der dies vermag.
Die Drachenschlange ist das Symbol für diese Energie, hier an ihrem Felsen kannst du dir deiner inneren Konflikte bewusst werden, kannst aus ihnen lernen und dein Gleichgewicht wiederfinden.
Der Sinn des Lebens als Mensch besteht darin, stetig mit allem Sein Harmonie zwischen den Dingen zu schaffen. Wir sind in der bewussten Polarität wie kein Tier und keine Pflanze hier auf Erden und haben den freien Willen, der uns quälen oder erfreuen kann.
Einst wird den Menschen gelehrt werden, dass sie sündige Wesen sind, dass sie falsch denken und handeln und wenn sie zuviel davon angesammelt haben, auf ewig verdammt sein werden.
Es ist eine Lüge; jedoch allein die Vorstellung, sündig zu sein, wird immer mehr Menschen davon abhalten, ihre Bestimmung auf Erden zu erfüllen. Es ist ein ungnädiger Rat, keine Hilfe zum Leben, denn alle werden es früher oder später spüren, wie zerrissen sie sind, wie schwer es ist, durch Unterdrückung der vielfältigen, ureigenen Fähigkeiten von sich und allem was auch noch ist, getrennt zu sein.
Als wenn man einem Kind sagen würde, du sollst Laufen lernen, aber du darfst nicht erst krabbeln und schon gar nicht rückwärts, das ist eine Sünde. Und du darfst nicht hinfallen, schon gar nicht nach links, denn das ist eine Todsünde. Wenn die Menschen ihren Lebensdrang unterdrückend, dem gehorchen werden, was für die Machthaber Gültigkeit hat, dann werden sie nach und nach unfähig sein, eigene Schritte zu tun.
Jedoch werden sie aus der Angst und Verzweiflung, die ihr tägliches Brot wird, irgendwann wieder der großen Sehnsucht nach Freiheit in sich nachgeben und aus ihren Zwangsjacken ausbrechen.
Ja, liebe Ihwar, ich sehe deine Fassungslosigkeit und auch deine Zweifel, und zu Recht weißt du über die Fähigkeit der Menschen, eines jeden einzelnen, das Leben hier auf Erden selbst zu gestalten, nach dem Göttlichen Willen, der in uns ist. Wie gesagt, noch sind wir uns darüber bewusst und lassen es gemeinsam zum Guten wenden, wir alle haben diese Chance, immer und überall; so entdecken wir sie immer wieder, können uns erinnern und mit unserer Macht, die in alles Sein untrennbar eingebunden ist, bewusst handeln.
Mann und Frau werden von der Drachenschlange umwunden und zeigen so die Verbindung beider Energien – das Gleichgewicht – an. Denn wir leben als Menschen mit der Polarität, mit der Gegensätzlichkeit von Schwarz und Weiß, von Nacht und Tag, von Kälte und Wärme, das ist ganz normal, dass ist in unserem Sein als Mensch verankert. Wir sind uns im Gegensatz zu den Tieren und den meisten Lebensformen hier auf Mutter Erde darüber bewusst. Die Allgöttlichkeit hat uns den freien Willen gegeben, nutzen wir ihn zum Wohle von uns und den anderen, seien wir für die ganze Schöpfung verantwortlich.
Und es ist wichtig zu akzeptieren, wir Menschen sind nicht in Gut oder Böse einzuordnen; wir haben nur verschiedene Auffassungen, denen wir uns je nach Potential stellen müssen und dabei sind wir über unser Handeln keinem Rechenschaft schuldig, nur uns selbst.“
„Aber ist es nicht gefährlich, wenn wir für unser Tun nicht verantwortlich sind?“, drängen aus Ihwar die fragenden Worte.
„Das habe ich nicht gesagt, denn jeder Mann, jede Frau und auch schon mit zunehmendem Alter jedes Kind haben ein Gewissen, und mit diesem Gewissen, mit diesem Maßstab für unser Wesen, können wir unterscheiden, wie wir handeln sollen, können wir es in unserem Körper spüren, träumen wir es in unserem Nachtbewusstsein, merken wir es in der Resonanz mit den anderen.
Es ist die Lenkung der Lebensenergien, die manchmal aus dem Gleichgewicht geraten; ich sagte es schon und auch du hast es selbst gesehen, die Drachenschlange ist das Symbol dafür. Ihr Wesen ist es, sich selber zu überwinden, mit sich selber ins Reine zu kommen, Ängste, das Böse, das Dunkle in sich selber akzeptieren zu lernen, hinnehmen zu können, ohne in einen selbstzerstörerischen Kampf zu geraten; so auch die eigenen Schattenseiten anzunehmen, ja lieben zu lernen, das, was keiner bei sich haben will. Denn das, was der Mensch an sich schön und gut findet, kann er leicht bejahend bei sich belassen, das andere dagegen muss er erst durch Übungen der Disziplin und Akzeptanz überwinden lernen.“
Laut vernehmlich zieht Ihwar den Atem ein und aufmerksam blickt sie die Veleda an.
„Ich nehme wahr, dass du in deinem inneren Wesen all das schon weißt, trotzdem zweifelst du an dir, das ist menschlich; lass dir Zeit, nach und nach wird alles in dein Bewusstsein dringen, was du wissen musst, und von Tag zu Tag wirst du mehr verstehen. Hab keine Angst, du kannst das, vertraue dir; hast du das verstanden?“
Ihwar ist erschöpft und nickt ermattet.
„Da gibt es noch etwas sehr Wichtiges, was du wissen musst; bevor ich dich ausruhen lasse, möchte ich es dir ans Herz legen. An einem Ort wie diesem ist die Anbindung an weit Entferntes gegeben, verbunden über Energielinien sind wir hier, mit dem ganzen Erdenrund, mit Vater Sonne, all den anderen Planeten, Sternen und all dem, was wir Menschen uns nicht vorstellen können.
Über diesen Pfad der Drachenschlange werden Kraft der Gedanken Botschaften übermittelt; besonders fähige Eingeweihte können auch Gegenstände zu anderen Plätzen der Kraft überleiten, und so nutzen sie diese Lichtstraße, die hier dem Lauf von Vater Sonne Richtung Nord-Westen folgt.
Wie schon in vergangenen Zeiten sind nicht nur sie es, sondern auch du und ich sind in der Verantwortung, diesen machtvollen Energiestrom zu behüten. Das ist auch die Erklärung dafür, dass an unseren Portalen denen, die unfähig sind, in Weitsicht zu handeln, der Zugang zum Felsen der Drachenschlange verwehrt wird.
Wir sind in der Verantwortung für die ganze Menschheit, haben die Aufgabe, dieses große Wissen zu verbergen, für alle folgenden Generationen zu bewahren, und so an die, die dazu berufen sind, weiterzugeben.
Und wir sind es, die im Kreislauf von Jera das zu tun haben, was für alles Leben auf Mutter Erde von Wichtigkeit ist; in Verbindung mit dem ganzen Weltenall, mit all jenen, die sich ebenfalls dem Göttlichen Bewusstsein geweiht haben.
Wir hier am Felsen der Drachenschlange gehen den Kreisen der Zukunft voraus; wir sind hier, um Vorboten zu sein, Vorboten für ein neues Bewusstsein in der Entwicklung der Menschheit, einst in ferner Zeit; wir sind hier, um die Kostbarkeit der Erkenntnis zu bewahren, für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind.
Und alle stellen sich diesem großen Experiment freiwillig, haben sich dazu bereit erklärt, bevor sie sich dem Körperlichen hingaben; sie alle sind bereit, das bewusste Erwachen zu erleben, auch wenn es erst irgendwann geschieht.
Und wenn wir hier auch immer wieder im Prozess der Reife in andere Zeiten und Welten reisen können, so sind wir doch in diesem Sein an unseren Körper und unser Menschsein gebunden. Ja, uns wird manchmal vieles abverlangt, auch das, woran wir uns im körperlichen Sein orientieren können, denn wenn wir im Geistigen bleiben, stirbt dieses Leben; so müssen wir immer wieder hierher zurückkehren, in dieses Bewusstsein des materiellen Seins. Wir können nicht dauerhaft das hohe Geistige mit dem Materiellen verknüpfen, unsere Körper würden darin verbrennen, wenn wir das derart wollten, müssten wir eine ganz andere Gestalt haben und wären keine Menschen mehr.
So, meine Tochter, jetzt ruhe dich aus, versorge deinen Körper mit Nahrung und lass es dir wohl ergehen; und Ihwar, höre auf, gegen dich zu kämpfen.“